Anklageschrift gegen den psychiatrischen Zwang

von Thomas Szasz

(Emeritierter Professor fur Psychiatrie in Syracuse, NY USA)
 

„Um gewaltätige und ungerechte Akte zu verüben, muß eine Regierung nicht nur dazu gewillt sein oder die Macht dazu besitzen, die Gewohnheiten, Ideen und Leidenschaften dieser Epoche müssen sie dabei unterstützen."
Alex de Tocqueville

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Die politische Geschichte ist zum größten Teil die Geschichte von Machthabern, die gewaltätige und ungerechte Akte gegen ihr Volk begehen. Dafür gibt es eine Vielzahl von Beispielen: Despotismus im Orient, die Inquisition, der sowjetische Gulag und die Todeslager der Nazis fallen einem als erstes ein. Unfreiwillige psychiatrische Eingriffe zählen auch dazu.

Indem Tocqueville sich hier auf „ungerechte Akte" bezieht, spricht er als ein unvoreingenommener Beobachter, der die vom Staat genehmigte Gewalt als ein Außenstehender betrachtet. Die betreffenden Bürger sehen die vom Staat gebilligte Gewalt per Definition als gerecht an. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, zum Beispiel, betrachtete Sklaverei als ein gerechtes und menschenwürdiges Wirtschaftssystem. Heute halten Menschen aller Kulturnationen unfreiwillige Psychiatrie für gerecht und menschenwürdig.
Ein bekannter Psychiater benutzte die moderene Rhetorik von "Rechten" als er hierzu schrieb: indem man der zivilen Gesellschaft das „Recht auf Behandlung"(ein Euphemismus für Zwangsmedikation und gemeindepsychiatrischen Zwang) hinzufügt, entstehe „eine Politik, die das Recht krank zu sein mit dem Recht gerettet zu werden realistischer und menschenwürdiger ins Gleichgewicht bringt."2


In der modernen, westlichen Medizin ist es ein anerkannter moralischer und juristischer Grundsatz, daß der Körper eines Menschens ihm gehört und daß ein ärztlicher Eingriff ohne Einwilligung seitens des Patientens einer Körperverletzung gleichkommt. Im Jahre 1891 fällte der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika folgende oft zitierte Entscheidung: „Kein Recht ist heiliger und ist im ‘Comom Law’ (bürgerliches Gesetzbuch) mit mehr Sorgfalt geschützt worden als das Recht eines jeden Menschen auf Besitz und Kontrolle seiner eigenen Person, frei von jeglicher Einschränkung oder Einmischung durch andere...Das Recht auf seine Person kann auch als das Recht auf absolute Immunität, als das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, bezeichnet werden."3


Der Richter Louis D. Brandeis wiederholte 1928 diese Aussage. Er schrieb: „Die Väter unserer Verfassung wollten die Amerikaner in ihrem Glauben, ihren Gedanken und ihren Gefühlen schützen. Sie schufen als Gegenstück zur Regierung das Recht in Ruhe gelassen zu werden-dieses ist das umfassendste aller Rechte und ist gleichzeitig das Recht, was von zivilisierten Menschen am höchsten geachtet wird."4


Es ist schwierig, diese Einstellung mit den Praktiken der unfreiwilligen Psychiatrie zu vereinbaren, es sei denn man geht davon aus, daß auf die Diagnose ‘Geisteskrankheit’ hin der ‘Patient’ sofort aus der Kategorie Mensch, die ‘Person’ genannt werden, herausfällt.5 In Anbetracht eines 1964 von Waren Burger, (später Vorsitzender des hohen Gerichtes, damals noch in seiner Funktion als Richter am Circuit Court) gefällten Urteils wird diese Interpretation jedoch unhaltbar. Das Urteil besagt fast, daß das Recht in Ruhe gelassen zu werden, „irrationalen" psychiatrischen Patienten genauso wie jedem anderen gegeben ist. In diesem oft zitierten Urteil, das man als Meilenstein bezeichnen kann, ging es darum, ob es verfassungsmäßig ist, einen Zeugen Jehovas eine lebensrettende Bluttransfusion ablehnen zu lassen. In seinem Urteil zitierte Burger Brandeis’ Mahnung und fügte hinzu: „Nichts in Brandeis' Äußerung weist darauf hin, daß er dachte, daß eine Person über diese Rechte nur verfügt, wenn es sich dabei um vernünftige Glaubensvorstellungen, berechtigte Gedanken, sinnvolle Emotionen oder wohlbegründete Empfindungen handelt.

Ich schlage daher vor, daß er auf diese Weise eine Vielzahl an dummen, unvernünftigen und sogar absurden Vorstellungen, die nicht den Erwartungen anderer entsprechen, mit einschließen wollte, wie zum Beispiel das Ablehnen von ärztlicher Behandlung, auch wenn man sich in äußerster Gefahr befindet."6 Genauso wie ein Zeuge Jehovas eine lebensrettende Behandlung aus Gründen die ihm, im Gegensatz zu anderen Menschen, richtig erscheinen, ablehnt, lehnt ein psychiatrischer Patient unfreiwillige psychiatrische Behandlung aus Gründen ab, die ihm, im Gegensatz zu anderen Menschen richtig erscheinen. Wenn ein Zeuge Jehovas nun ein in der Verfassung verbürgtes Recht hat, nach seiner Überzeugung zu handeln, warum trifft das gleiche dann nicht auch auf einen psychischen Patienten zu?


Ein in jüngerer Zeit gefälltes Gerichtsurteil bestätigte das Recht, eine Behandlung bei nicht psychischen Krankheiten abzulehnen und unterstützt daher meine Auffassung, daß ein solches Recht auch auf das Ablehnen von Behandlung bei Geisteskrankheiten zutrifft. 1993 ging ein Gefängnisarzt in Kalifornien „vor Gericht, um die Erlaubnis zu erwirken, einen querschnittsgelähmten Gefängnisinsassen, der eine solche ärztliches Behandlung zurückwies, zwangsernähren und dabei mit Medikamenten versorgen zu können." Das Urteil lautete:

„Das Recht, eine ärztliche Behandlung abzulehnen ist „fundamentaler" Bestandteil des Prinzips des aufgeklärten Einverständnisses. Das Recht des Einzelnen auf persönliche Autonomie bei der Entscheidung, eine ärztliche Behandlung abzulehnen, hängt nicht von der Weisheit, d.h. von medizinischer Rationalität der Entscheidung ab....Da Entscheidungen der Gesundheitsfürsorge im Wesen das subjektive Gefühl des Wohlseins des Einzelnen betreffen, ... verfolgt der Staat keine uneingeschränkte oder undifferenzierte Politik der Lebenserhaltung auf Kosten der persönlichen Autonomie. Grundsätzlich läßt sich sagen, die Vorstelllung, daß der Einzelne zum Wohl des Staates existiert, ist selbstverständlich völlig gegensätzlich zu unserer grundlegenden These; diese [These] ist, daß es die Rolle des Staates ist, dem Einzelnen ein Maximum an persönlicher Freiheit oder in Entscheidungen und Verhaltensweisen zuzusichern."7

Dieses Urteil ist aus zweierlei Hinsicht beachtenswert. Erstens: Das Leiden, welches der Arzt zur Behandlung vorgesehen hatte, war die Entscheidung des Patientens, die Nahrung zu verweigern, was eigentlich keine Krankheit ist und der Eingriff, der dem Patienten aufgezwungen werden sollte, sollte die Ernährung des Patienten umfassen, was wiederum keine echte ärztliche Behandlung darstellt. Zweitens: Das Gericht billigte dem Einzelnen ausdrücklich das prinzipielle Recht zu, Behandlung aus irrationalen Beweggründen zu verweigern. Eine solche genaue Beschreibung der Sachlage wäre schon längst fällig gewesen und wir ignorieren [diese beschreibung] auf unsere Gefahr! Der Arzt stellt die Rationalität und die Kompetenz seines Patienten nur in Frage, wenn der Patient mit dem, was der Arzt für ihn tun will/ ihm antun will nicht einverstanden ist. Wie könnte es auch anders sein? Denn wenn der Patient dem Arzt zustimmt, wie könnte der Arzt dann die Vernunft und Kompetenz des Patienten in Frage stellen, ohne dabei seine eigene Vernunft in Zweifel zu ziehen? Wenn also ein irrationaler Gefängnisinsasse das Recht hat, von Ärzten unbehelligt zu bleiben, weshalb könnte also einem Nicht-Gefängnisinsassen, der das Recht darauf hat, als vernünftig angesehen zu werden, dieses Recht versagt werden?


Schließlich gibt es auch noch einen praktischen Grund, warum das Einverständnis des Patienten die Voraussetzung für eine ärztlichen Eingriff sein sollte, aber sogar das sollte nicht genügen, denn das Einverständnis ist leicht übertragbar. Stellvertretende Einverständnisse sind ein altes moralisches Prinzip und juristischer Grundsatz, Beispiele hierfür sind Eltern, die die Einwilligung anstelle ihrer minderjährigen Kinder geben, Vormünder anstelle ihrer inkompetenten Mündel und, im erweiterten Sinne, der Staat anstelle seiner „kindlichen" Bürger (die Doktrin parens patriae - „Landeskinder").


Folglich wird der Arzt/Beschützer im Dienste des modernen Nationalstaates zum Arzt/Verfolger und wirft einen dunklen Schatten über dieses blutige Jahrhundert. Deutsche, japanische und sowjetische Ärzte machten sich ganz offenkundig der Mißachtung der zwei grundlegendsten Regeln der Medizin, nämlich Menschen gegen ihren Willen zu behandeln und an medizinischen Töten teilzunehmen (das heißt Töten durch Ärzte) schuldig. Schließlich war und ist die Psychiatrie - in freien und totalitären Staaten gleichermaßen- für ähnliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich: psychiatrische Praktiken beruhen auf Zwang und machen „psychiatrische Patienten", die ihrer Menschlichkeit beraubt wurden, zu wandelnden Leichen, zu ständigen Untergebenen der ihnen überlegenen Psychiater.


Ein weiterer Aspekt ist hier zu beachten. Wenn eine Gruppe von Menschen Schlechtes tut- und damit meine ich, daß die Mitglieder der Gruppe Taten begehen, vor denen sie als Einzelne zurückschrecken würden- dann wird von dieser Gruppe Schlechtes als gut definiert. Die Beteiligung von Ärzte insbesondere von Psychiatern am Holocaust ist ein Beispiel hierfür. Es ist sicher kein Zufall, daß der Massenmord an Juden, Zigeunern und Homosexuellen vom medizinalisierten Massenmord an psychiatrischen Patienten, der ihm vorausging, vorbereitet wurde. Jahre später errinnerte uns der Prozeß gegen Adolf Eichmann in Jerusalem dumpf daran, daß Ärzte in diesem Jahrtausend als Henker auf der Bühne der Geschichte erschienen waren und daß es Zeit und Anstrengungen kosten wird, sie aus dieser Rolle zu vertreiben.

In einer Verteidigungsrede erklärte Robert Servatius, Eichmanns Anwalt, auf nüchterne Art und Weise und als ob es eine der natürlichsten Dinge auf Erden sei: „Auch Töten ist eine medizinische Angelegenheit."8 Servatius sagte nicht, daß Töten eine medizinische Angelegenheit war. Vielleicht glaubte er und sein Klient damals immer noch, daß „Töten eine medizinische Angelegenheit ist, wenn der Staat seine „Einwilligung" in den Massenmord durch Ärzte gibt. Diese Ansicht läßt sich gut mit dem Bild des Arztes als einen Soldaten, der in einem gegen Staatsfeinde geführten Krieg eingesetzt wird, vereinen. In diesem Zusammenhang sollten wir bedenken, daß der Fanatismus mit dem die Nazis den therapeutischen Krieg gegen Homosexuelle führten sich lediglich in seiner Ausmaß, nicht aber in seiner Art und Weise von dem Fanatismus unterschied, mit dem amerikanische Psychiater- über einen wesentlich längeren Zeitraum- ihren therapeutischen Krieg gegen Homosexuelle führten und mit dem sie jetzt „Suchtkranke" bekämpfen.


Betrachtet man die Geschichte der Psychiatrie, so ließe sich aus dem Holocaust eine Lehre ziehen, die wir jedoch bis jetzt nicht wahrhaben wollen. Die Verirrungen der nationalsozialistischen Medizin, die wir verabscheuen, sind lediglich eine übertriebene Form einer Art Konflikte zu lösen, für die alle modernen Nationaen, die medizinisch-therapuetische Lösungen für ihre moralisch-sozialen Probleme suchen, sehr empfänglich sind (Therapeutische Staaten). Deutschland und die Vereinigten Staaten - genauso wie viele andere moderne Staaten - erfüllen dieses Kriterium.

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Die Tatsache, daß ein Psychiater dazu befugt ist, Gewalt anzuwenden, um Menschen gegen ihren Willen in die Rolle von psychisch Kranken zu bringen, ist ein eindeutiger Beweis dafür, daß dem Psychiater die Macht dazu vom Staat erteilt wurde. Bereits im Jahre 1913 erkannte Karl Jaspers die außerordentliche Bedeutung dieser Tatsache für die Praxis der Psychiatrie, als er schrieb: „Die Einweisung ins Krankenhaus erfolgt oft gegen den Willen des Patienten und daher besteht zwischen dem Psychiater und seinem Patienten eine andere Beziehung als zwischen anderen Ärzten und ihren Patienten. Der Psychiater versucht diesen Unterschied so vernachläßigbar klein wie nur irgend möglich zu gestalten, indem er absichtlich die rein medizinische Herangegensweise an (das Problem des) Patienten betont, aber in vielen Fällen ist dieser ziemlich fest davon überzeugt, daß er gesund ist und er widersetzt sich diesen medizinischen Bemühungen." 9

Dieses Problem ist heute genauso akut wie 1913 aber traurigerweise noch wirkungsvoller von der Öffentlichkeit verdeckt als damals. Z. B. Donald F. Klein und Pau H. Wender - Psychiatrie Professoren bei Columbia Universität in New York und die Universität von Utah in Salt Lake City - erklären:
"Zum Abschluß möchten wir den depressiven Patienten, die genauso Patienten sind wie jeder andere in medinizinischer Therapie, einen Rat anbieten."10

Der naive Leser könnte in die Irre geführt werden, zu glauben, daß Psychiater - genau wie reguläre Ärzte - Patienten nicht gegen ihre Willen behandeln.

Der systematische Gebrauch von Gewalt bedarf einer Legitimation. Früher erfüllten Kirche und Staat diese Funktion, indem sie Gottes Vorstellung eines rechtschaffenden Lebens repräsentierten und ausführten. Heute erfüllen Medizin und Staat diese Aufgabe. W. H. Auden schrieb dazu: „Das besondere und neue an unserem Zeitalter ist, daß das Hauptziel der Politik in allen zivilisierten Gesellschaften genau genommen kein politisches Ziel ist, denn heute geht es nicht mehr um menschliche Wesen als Personen und Bürger, sondern um menschliche Körper... In allen industriell entwickelten Ländern, egal zu welcher politischen Ideologie sie sich bekennen, hat die Politik im Grunde genommen das gleiche Ziel: nämlich jedem Mitglied der Gesellschaft als psychophysischem Organismus das Recht auf körperliche und geistige Gesundheit zu gewährleisten."11


So lange die Idee von psychischer Krankheit weiterhin psychiatrischen Schwindel und Zwang legitimisiert, kann die Psychiatrie - bestehend aus einem komplexen Mosaik von medizinalisierter Zwang und Ausreden - nicht reformiert, geschweige denn abgeschaft werden. Demzufolge ist der größte Dorn im Auge eines jeden, der sich gegen Zwang in der Psychiatrie ausspricht, dessen Legitimation oder der Mißbrauch von Macht an sich.

Macht ist die Fähigkeit, Gehorsam zu erzwingen. Macht gründet sich auf Zwang von oben und auf Abhängigkeit von unten. Mit Zwang meine ich die rechtliche und/ oder physische Fähigkeit, eine andere Person um Leben, Freiheit oder Eigentum zu bringen, oder eine solche „Bestrafung" anzudrohen. Mit Abhängikeit meine ich den Wunsch oder das Bedürfnis, andere Menschen als Beschützer oder Fürsorger zu haben. Samuel Johnson stellte folgendes fest: „Frauen sind von der Natur mit so viel Macht ausgestattet worden, daß es sehr weise eingerichtet ist, das ihnen das Gesetz wenig Macht einräumt."12 Die sexuell begründete Macht, die Frauen (über die Männer, die diese Frauen begehren) besitzen, wird hier auf geschickte Art und Weise ihrer juristischen Unterworfenheit (ein Zustand, der ihnen von Männern aufgezwungen wurde) gegenüber gestellt.

Wenn man Macht lediglich als die Fähigkeit, Gehorsam einzufordern, definiert, übergeht man den Unterschied zwischen erzwungenen und nicht erzwungenen Mitteln, mit denen Gehorsam erreicht werden kann. Daher ist eine solche Definition ungenau und möglicherweise sogar irreführend. Als Voltaire z.B. ausrief: „Ecrazez l’infame!"(Zermahlt den Ruchlosen!) so bezog er sich mit dem Wort „l’infame" auf die Macht der Kirche, Menschen einzusperren, zu foltern und umzubringen, nicht aber auf den Einfluß des Priesters, Leichtgläubige falsch zu informieren oder irrezuführen. Die Unterscheidung, die ich hier vornehme ist keineswegs neu, dennoch muß sie hier genannt und neu dargestellt werden. So schrieb der amerikanische Philosoph Alfred North Whitehead:
„Die Beziehungen zwischen Individuen oder sozialen Gruppen nehmen eine von zwei Formen an: Gewalt oder Überzeugung. Handel ist ein gutes Beispiel für Beziehungen, die auf Überzeugung basieren. Krieg, Sklaverei und durch Regierungen ausgeübter Zwang sind Beispiele für die Herrschaft von Gewalt."13


Das Wort „Gewalt" bezeichnet hier die Macht, einem anderen Menschen zu schaden oder ihm Schaden anzudrohen; während „Einfluß" sich auf das Sichern von Gehorsam mit Hilfe von Geld, anderen Belohnungen oder Verlockungen bezieht. Die Gewalt, symbolisiert duch die Waffe, bezieht ihre Stärke aus der Fähigkeit, den anderen zu verletzen oder zu töten, die Macht des Einflußes hingegen beruht darauf, die Wünsche des anderen zu befriedigen. „Wunsch" bezeichnet die Erfahrung eines (unbefriedigten) Bedürfnisses nach Nahrung, Drogen oder Sex. Diese Erfahrung ist schmerzhaft, während die Befriedigung als lustvoll erlebt wird. Derjenige, der zur Befriedigung seiner Bedürfnisse auf eine andere Person angewiesen ist (oder dessen Bedürfnisse/ Wünsche von jemand anderes geweckt werden können), spürt, daß der andere Macht über ihn hat. Solcher Natur, wenn gleich nicht nur solcher Natur, ist die Macht, die Eltern über ihre Kinder, der Arzt über seine Patienten und Circe über Ulysses hat. In dem Maße, wie wir Herr unserer Wünsche werden und sie überwinden, emanzipieren wir uns von der Quelle der Herrschaft.


Die paradigmatische Ausübung von Zwang in der Psychiatrie ist das Aufzwingen von angeblich diagnostischen oder therapeutischen Eingriffen in das Leben eines Menschens gegen seinen Willen. Diese Eingriffe werden vom Staat legitimiert, weil sie den Betroffenen vor der Verrücktheit und die Öffentlichkeit vor dem Verrückten schützen sollen. Die Quelle der psychiatrischen Herrschaft ist daher die Gewalt. Eine weitere Ursache für den psychiatrischen Zwang ist Abhängigkeit, ganz konkret, das Bedürfnis der Machtlosen nach Trost und Fürsorge durch die Mächtigen. Unfreiwillige psychiatrische Eingriffe beruhen auf Zwang, freiwillige psychiatrische Eingriffe beruhen dagegen auf Abhängigkeit. Diese beiden Formen von psychiatrischen Beziehungen miteinander zu verwechseln oder gleichzusetzen wäre genauso absurd, wie wenn man Vergewaltigung und von beiden Seiten gewünschte sexuelle Beziehungen miteinander verwechseln oder gleichsetzen würde.13


Ich bin gegen unfreiwillige psychiatrische Eingriffe, nicht weil ich glaube, daß diese unbedingt „schlecht" für den Patienten sind, sondern weil ich dagegen bin, den Machtapperat des Staates zu benutzen, um Menschen gegen ihren Willen in psychiatrische Beziehungen zu drängen. Demzufolge unterstütze ich freiwillige psychiatrische Eingriffe, nicht weil ich glaube, daß diese für den Patienten unbedingt „gut" sind, sondern weil ich dagegen bin, die Macht des Staates dazu zu benutzen, um sich in vertragliche Beziehungen zwischen erwachsenen Personen einzumischen.

Wenn eine Person unter Krankheit, Unterdrückung oder Bedürfnissen leidet, sucht sie sich für gewöhnlich eine andere Person, die das Wissen, die Fähigkeit oder die Macht besitzt, um ihr zu helfen oder der sie diese Merkmale zuschreibt. Da man glaubte, daß Priester sich bei mächtigen Göttern für jemanden einsetzen können, besaßen sie im Altertum mehr Macht als jede andere Person. Die Aufgabe, Seelen und Körper zu heilen und sozialökonomische Schwierigkeiten zu lindern, wurde lange Zeit nur den Priestern zugebilligt. Erst seit ein paar Jahrhunderten wird zwischen den einzelnen Rollen unterschieden, indem die Instititionen Religion, Medizin und Politik je ihren „eigenen" Einflußbereich zugewiesen bekamen und gleichzeitig begannen, ihren Spielraum und ihre Macht auf Kosten des Spielraums und der Macht der anderen Bereiche auszuweiten.

Die Trennung von Staat und Kirche bedeutete einen radikalen Bruch in der politischen Geschichte des Westens. Obwohl die amerikanische Verfassung noch Lippenbekenntnisse gegenüber dem allmächtigen Gott ablegt, so ist sie in Wirklichkeit eine Deklaration des Grundsatzes, daß nur der Staat das legitime Recht dazu hat, Macht auszuüben, und daß die einzige Quelle seiner Legitimation das „Glücklichsein des Volkes" ist, das man dadurch erreicht, indem man sich die „Zustimmung der Regierten" sichert. Nach und nach haben alle westlichen Staaten diese Einstellung angenommen. Der argentinische Dichter und Romanschriftssteller Adolfo Bioy Casares beschrieb auf satirische Art und Weise das so entstandene „Glücklichsein" wie folgt: „Vielleicht wäre es angebracht, die drei Geschichtsepochen zu nennen. Als der Mensch glaubte, daß das Glücklichsein von Gott abhinge, tötete er aus religiösen Gründen. Als der Mensch glaubte, daß das Glücklichsein von der Regierungsform abhing, tötete er aus politischen Gründen. Dann, nach viel zu langem Träumen, nach richtigen Alpträumen, begann dann die Geschichtsepoche, in der wir uns gegenwärtig befinden. Der Mensch erwachte und begriff was er schon immer wußte, nämlich daß Glücklichsein von der Gesundheit abhängt, und der Mensch fing an, aus therapeutischen Gründen zu töten."14 Die Behandlung von Geisteskrankheit nimmt unter diesen therapeutischen Gründen einen besonderen Platz ein.

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Menschliche Wesen sind äußerst empfänglich für zwei Arten von unangenehmen Erfahrungen, Angst/Schuld und Schmerz/Leiden. Jede einzelne für sich ist eine nahezu unversiegbare Quelle von Abhängigkeit von Seelen-Ärzten, Körper-Ärzten oder von beiden. Die Religion, indem sie Mythen und Rituale schafft, befreit die Menschen von Angst und Schuld und verspricht ihnen ein ruhiges, ewiges Leben im Jenseits. Die Medizin, indem sie Diagnosen und Behandlung bietet, befreit die Menschen von Schmerz und Leiden und verspricht den Menschen ein gesundes und endlos verlängertes Leben auf Erden. Wie paßt nun die Psychiatrie in dieses Bild?15

Der medizinische Zweig den wir heute „Psychiatrie" nennen, nahm mit der Einweisung von unbequemen Personen in Irrenhäuser seinen Anfang. Das hatte zur Folge, daß zwei symmetrische Gruppen entstanden: die Eingesperrten, „Verrückte" genannt und die Wächter, „Irrenärzte" genannt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde die Idee von Geisteskrankheit und das Irrenhaus als Einrichtung zu wichtigen- in der Tat gesellschaftlich unentbehrlichen medizinisch- rechtlichen Konzepten und Methoden der gesellschaftlichen Kontrolle. Schon bald gelangten Recht, Medizin und Öffentlichkeit zu der Ansicht, daß ein Irrenhaus der angemessene Platz für Personen sei, die offiziell für geisteskrank erklärt (diagnostiziert) worden waren.

Zunächst hatten nur einige wenige eine Problem damit, daß die Situation der Geisteskranken in der Anstalt der Lage von Gefängnisinsassen ählich war. Indem die Philosophie der Aufklärung die Frage nach den Menschenrechten in den Mittelpunkt der Bühne der westlichen Geschichte projektierte, untergrub sie diese Selbstzufriedenheit. Die Tatsache, daß geisteskranke Patienten ihrer Freiheit beraubt wurden, mußte mit dem angeblichen Eifer der Gesellschaft, die Menschenrechte schützen zu wollen, vereinbart werden. Das erreichte man teils indem man das Konzept der Krankheit (ein körperliches Leiden) mit dem Konzept der Inkompetenz (non compos mentis, ein rechtliches Konzept und später ein „seelisches" Leiden) zusammenfaßte und diese miteinander verwechselte; und teils indem man die zivilrechtliche Verwahrung der Abteilung staatliche Polizeigewalt, das heißt, der Pflicht des Staates, die Öffentlichkeit vor „gefährlichen" Personen (Gesetzesbrechern) zu schützen, zuschrieb. Diese zweifache Rechtfertigung der Zwangspsychiatrie hat sich in den letzten ca. dreihundert Jahren im wesentlichen nicht verändert.

Mit der Charakterisierung der Geisteskrankheit als eine Krankheit, bei der der Patient unter überwältigenden Impulsen leidet und deren geeignete ärztlichen Behandlung unweigerlich mit aufgezwungenen Paternalismus verbunden ist, gelang es im 18. Jahrhundert die Zwangspsychiatrie zu rechtfertigen. Im 20. Jahrhundert hatte diese Rechtfertigung viel an Legitimität verloren und bedurfte einer Erneuerung. Dieses wiederum wurde durch zwei relativ unterschiedliche Entwicklungen erreicht: erstens, durch das um 1910 wachsende scheinwissenschaftliche Ansehen der Psychoanalyse und zweitens, in den frühen 60ziger Jahren, durch die angebliche Wirksamkeit von antipsychotischen Medikamenten. Heute wird die Legitimität der Zwangspsychiatrie durch Gehirnscanmethoden weiter verstärkt, die angeblich belegen, daß Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten sind, die dennoch nicht mit der Einwilligung des Patienten von Neurologen behandelt werden sollten, sondern von Psychiatern, ohne das eine Einwilligung des Patienten benötigt wird.


Ursprünglich waren Psychiatrie und Psychoanalyse zwei unterschiedliche, von einander getrennte Unternehmungen. Sie gingen jedoch schon bald eine „Zweckehe" ein, die sich für die Zukunft der „seelischen Gesundheitsdienstleistungs"-Industrie als verhängnisvoll erweisen sollte. Da vieles in der Geschichte der Psychiatrie von diesem Zeitpunkt an nur von akademischen Interesse ist, will ich hier nur einige wenige Bemerkungen machen, die für unser gegenwärtiges Anliegen von Bedeutung sind. Ungeachtet der schlampigen Wissenschaftlichkeit vieler Psychiatriehistoriker ist es wichtig, sich daran zu erinnern, daß Sigmund Freud kein Psychiater war. Im Europa des späten 19. Jahrhunderts bezeichnete der Begriff „Psychiater" einen Arzt, der in einem staatlichen psychiatrischen Krankenhaus arbeitete. Da Juden von einer Anstellung in Beamtenapparat ausgeschlossen waren, konnten sie nicht als Psychiater arbeiten und demnach auch keine Personen dazu zwingen, ihnen als unfreiwillige Patienten zu dienen. Nicht nur war Freud kein Psychiater, die meisten Psychiater sahen seine Schriften als gegen die Psychiatrie gerichtet an.

Sie lehnten Freud’s Schriften ab, nicht weil er etwa gegen unfreiwillige psychiatrische Eingriffe gewesen wäre, das Gegenteil war der Fall, er unterstützte begeistert Ausreden und Zwang der Psychiatrie.16 Statt dessen mißbilligten sie sein Werk, weil sie sich selbst als Ärzte mit fest in der Neurologie und der Neuropathologie verankerter Identität sehen wollten; und weil sie ihre Patienten als Menschen die an echten Krankheiten leiden, also an körperlichen Abnormalitäten mit physikalischen Ursachen, unabhängig von der persönlichen Geschichte des Leidenden, sehen wollten. In dem Freud eine neue Gruppe von krankheitsverursachenden Faktoren einführte, nämlich die Lebensgeschichte des Patienten (insbesondere während der Kindheit erlittene „Traumen"), zerstörte oder bereicherte er - je nach Standpunkt - die rein körperliche Konzeption der Ätiologie und der Pathologie.

Es ist im Grunde Eugen Bleuler, der sich die Psychoanalyse zu eigen machte, zu verdanken, daß das bestehende gesellschaftliche Prestige der Psychiatrie durch das scheinbar wissenschaftliche Ansehen der Psychoanalyse aufgebessert werden konnte. Nach dem 1.Weltkrieg wurde der psychiatrische Berufstand zu einem reißenden Strom, der durch das Zusammenfließen zweier großer Nebenflüsse entstand: das staatliche Krankenhaussystem (das einige der verletzten und schädlichen Mitglieder der Gesellschaft in Anstalten einwies und für sie sorgte) und die Theorie und Praxis der Psychoanalyse (die nicht institutionalisierten, zahlenden Personen ein System der Verhaltensinterpretation und der Beratung anbot). Das hatte zur Folge, daß psychiatrische Macht für Kritik unangreifbarer denn je wurde.

Ich habe nicht die Absicht, neues über die Zusammenarbeit zwischen Bleuler und Freud zu erzählen. Ich will lediglich zu ein paar neuen Folgerungen kommen. Historiker, die sich mit Psychiatrie und Psychoanalyse beschäftigt haben, haben übersehen, wie Freud, indem er begierig auf die Segnungen der Psychiatrie schielte, zusammen mit Bleuler, der sich wiederum die psychoanalytischen Erkenntnissen scharfsinnig zu Nutze machte, das Unternehmen Psychiatrie aufs neue rechtfertigte. 1914 schrieb Freud in „Die Geschichte der Psychoanalyse": „Bleuler hat mir in einem Brief mitgeteilt, daß meine Schriften in Burghölzli [der staatlichen Irrenanstalt in Zürich] gelesen und angewendet werden...Ich habe zum wiederholten Male die großen Verdienste der Züricher Psychiatrie Schule bei der Verbreitung der Psychoanalyse anerkannt."18 Was meint Freud hier mit „Psychoanalyse"? Ganz sicher kann er hier nicht gemeint haben, daß die betreffenden Personen freiwillige Klienten sein müssen - eine Bedingung, die er neun Jahre zuvor als wesentlich für die psychoanalytische Praxis erkannt hatte.

1905 hatte Freud noch kundgetan: „Desgleichen ist die Methode nicht bei Menschen anwendbar, die nicht von ihrem eigenen Leiden dazu getrieben wurden, in Behandlung zu gehen, sondern die sich einer Behandlung nur unterziehen, weil sie von Familienangehörigen dazu gezwungen wurden."19 Wenn dem so ist, dann ist die Psychoanalyse noch weniger bei solchen Menschen anwendbar, die durch den Einfluß von Polizisten, Richtern und Psychiatern „dazu" gezwungen wurden. Man kann also daraus schließen, daß Freud, was seine Verbindung zu den Psychiatern in Burghölzli langt, das Wort „Psychoanalyse" nicht benutzte, um eine zwangfreie Beziehung zwischen einem Heiler und seinem Objekt, sondern mehr, um eine Ideen zu bezeichnen, die mit seinem Namen assoziiert wurden. Diese Interpretation wurde durch folgende Bemerkung von Freud noch unterstützt: „Jung wandte die analystischen Interpretationsmethoden bei den befremdendsten und obskursten Phänomenen von demetia praecox [Schizophrenie] erfolgreich an, in dem Maße, daß die Ursprünge der Lebensgeschichte und der Interessen der Patienten ganz deutlich zu Tage traten. Danach war es den Psychiatern nunmehr unmöglich, die Psychoanalyse noch länger zu ignorieren."20


Wie wir wissen, war es den Psychiatern durchaus nicht unmöglich, die Psychoanalyse zu ignorieren, wenn der Begriff „Psychoanalyse" Respekt vor der gegenwärtigen Lebenslage und den bürgerlichen Rechten des Patientens umfaßte. Ja, Freud selbst führte den Feldzug an, der freudig das offenkundigste Ereignis in der Geschichte eines schizophrenen Patienten weiterhin ignorierte, nämlich die Tatsache, daß der Psychiater ihn seiner Freiheit beraubte. Ich habe schon an anderer Stelle darauf aufmerksam gemacht, daß Freud Schreber’s Einkerkerung völlig unbeachtet ließ. Hierzu schrieb ich 1976:

In seiner wohl berühmtesten Studie über Schizophrenie, dem Fall Schreber, gibt sich Freud seitenlangen Spekulationen über Wesen und Ursache von Schreber’s „Krankheit" hin, erwähnt jedoch mit keinem Wort, daß es für Schreber ein Problem sein könnte, daß er eingesperrt ist oder daß ihm das Recht auf Freiheit nicht zugestanden wird. Der „psychotische" Schreber stellt die Legitimität seines Eingesperrtseins in Frage und der verrückte Schreber sucht und sichert sich seine Freiheit. Der „Psychoanalytiker" Freud stellt niemals die Legitimität von Schrebers Gefangenschaft in Frage und der Psychopathologe Freud kümmerte sich nicht mehr um Schrebers Freiheit als sich ein Pathologe um die Freiheit eines seiner in Alkohol eingelegten Anschauungsmuster kümmert."21


Der Schriftsteller und Literaturkritiker Gabriel Josipovici erinnerte uns daran, daß „wir Menschen nicht entziffern, wir begegnen ihnen."22 Die Macht, die der Psychiater über den Patienten hat, macht die Möglichkeit einer menschenwürdigen Begegnung zwischen ihnen zu nichte. Deutet man dieses Zitat als Befehl- wir sollen den anderen nicht entziffern, sondern ihm begegnen- so würde diese Vorschrift ganz eindeutig gegen die Regeln der Psyschiatrie und die Gesetze des Therapeutischen Staates verstoßen. Um ein Psychiater zu bleiben, muß der Psychiater seinen Klienten als einen „Patienten", der an einer gefährlichen „Geisteskankheit" leidet, ansehen und sich selbst als einen Arzt, dessen Aufgabe es nicht nur ist, Geisteskrankheiten zu behandeln, sondern auch unschuldige Patienten, die für „gefährlich" gehalten werden, einzusperren und schuldige Patienten, da sie, weil sie für verrückt erklärt wurden, für unschuldig gehalten werden, von ihrer Schuld freizusprechen. Kein Versuch, die Psychiatrie durch das Vokabular der Psychoanalyse semantisch wieder mit neuem Leben zu erfüllen, wie es typisch für das Leben im 20. Jahrhundert in freien und totalitären Staaten zugleich ist, konnte oder beabsichtigte je dieses Grundelemente der Psychiatrie zu verändern.


An dieser Stelle will ich noch eine weitere Bemerkung machen, was Freud’s Beteiligung an der Ausweitung und Legitimierung der psychiatrischen Macht anbelangt. 1914 schrieb Freud in seinem Essay „Über Narzismus": „Solche Patienten [Schizophrene]... weisen zwei grundlegende Charakteristiken auf: Megalomanie und Interessenlosigkeit für die Außenwelt- für Menschen und Dinge gleichermaßen. Infolge letzterer werden sie unzugänglich für den Einfluß der Psychoanalyse und können durch unsere Anstrengungen nicht geheilt werden."23 Wenn man den Schizophrenen als eine Person bezeichnet, die sich, indem sie sich von „Dingen und Menschen" abwendet, selbst den Vorteil der psychoanalytischen Behandlung vorenthält, dann wäre das so, als wenn man einen Atheisten als eine Person bezeichnet, die sich, dadurch das sie sich von Gott abwendet, sich den Vorteil des religiösen Heils vorenthält. Anstatt die Entscheidung des Schizophrenen, die Fürsorge des Pyschoanalytikers zu meiden, als ähnlich der Entscheidung einer Person, die Fürsorge eines Chiropraktikers oder Christian Science Heilers zu meiden, anzuerkennen, definiert Freud die Entscheidung selbst als ein Symptom der Schizophrenie und deutet damit an, daß die Psychoanalyse den Schizophrenen, wenn er bereit wäre, sich dem Analytiker zu beugen, ihn heilen könnte.


Obwohl Psychiater und Pychoanalytiker die Pychoanalyse heute als einen Zweig der Psychiatrie behandeln, so waren Psychoanalyse und Psychiatrie, bevor die Psychoanalyse von der Psychiatrie geschluckt wurde, in Wahrheit zwei fast antithetische Unternehmungen. Politisch gesehen, war es die Essenz der psychoanalytischen Beziehung, frei von dem, für die Beziehung zwischen Psychiater und psychiatrischen Patienten (traditionsgemäß) charakteristischen, Zwang zu sein. So war es mit der psychoanalytischen Beziehung praktisch unvereinbar, wenn ein Analytiker versagte, indem er die persönliche Autonomie des Patienten nicht respektierte und/oder in das Leben des Klienten eingriff. Dementsprechend können die Ziele, Werte und Praktiken der Psychiatrie und der Psychoanalyse wie folgt zusammengefaßt werden:

*** Um eine Heilung herbeizuführen, nötigt und kontrolliert der Psychiater seinen „Patienten": er sperrt das (unfreiwillige) Opfer ein und unterwirft es verschiedenen unerwünschten chemischen und physischen Eingriffen.


*** Um einen Dialog zu führen, macht der Psychoanalytiker einen vertrag mit seinem „Patienten" und kooperiert mit ihm: er hört seinem (freiwilligen) Gesprächspartner zu und spricht mit ihm, der Gesprächspartner zahlt für die Dienstleistung.24

Bevor die Psychoanalyse als Berufsstand institutionalisiert wurde, stellte die psychoanalytische Beziehung eine völlig neue soziale Entwicklung dar, sie bot nämlich eine auf Freiwilligkeit basierende, weltliche Hilfe („Therapie") für Probleme im Leben (sogenannte „Neurosen") an. Der Begriff „Psychoanalyse" bezeichnete damals einen vertraulichen Dialog zwischen einem Experten und einem Klienten, wobei ersterer die Rolle des Psychiaters als Aufseher ablehnte und letzterer die Rolle des verantwortlichen, freiwilligen Patienten annahm. Psychiatrie und Psychoanalyse basierten daher auf äußerst unterschiedlichen Vorausetzungen/Prämissen und erforderten Praktiken, die miteinander nicht vereinbar waren.

***Der traditionelle Psychiater war ein fest angestellter Arzt, der in einer psychiatrischen Einrichtung arbeitete, sein Einkommen bezog er vom Staat, er vertrat seine bürokratischen Vorgesetzten und die Familienangehörigen seines Patientens. Der typische Insasse einer psychiatrischen Klinik war arm, gegen seinen Willen in die Rolle des Patienten gelangt und er wohnte in einer staatlichen Nervenklinik.

***Der traditionelle Psychoanalytiker war ein selbstständiger Professioneller, der in seiner eigenen Praxis arbeitete, seine Einnahmequelle war sein Patient, er fungierte als Vertreter seines Patienten. Der (typische) psychoanalytische Patient war eine reiche Person (für gewöhnlich reicher als ihr Analytiker), begab sich von selbst in die Rolle des Patientens und lebte in einem Eigenheim oder wo auch immer er wollte.

Sobald Freud die Anerkennung bekam, nach der er sich gesehnt hatte, zerstörte er den größten Wert der psychoanalytischen Beziehung. Hiermit beziehe ich mich auf die Tatsache, daß Freud für sich die Autorität beanspruchte, die Fähigkeit in der Psychoanalyse zu arbeiten zu bestätigen und zu verlangen, daß Einzelpersonen, die Psychoanalytiker werden wollten sich einer sogenannten „Trainingsanalyse" unterziehen müßten. Wenn Freiwilligkeit ein Grundelement der psychoanalytischen Beziehung ist, dann ist eine obligatorische Trainingsanalyse ein Widerspruch in sich. Die für die Trainingsanalyse so wesentliche Aufhebung der Vertraulichkeitsbedingung zerstörte das Innerste der Rolle des Psychoanalytikers. Die moralische Integrität und das Heilungspotential jener auf absoluter Freiwilligkeit basierenden, vertraglichen, Begegnung zwischen zwei Menschen wurde dabei zerstört.25

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Seit mehr als vierzig Jahren vertrete ich den Standpunkt, daß die Institution Psychiatrie auf ziviler Verwahrung und der Verteidigung begründet auf „Unzu-rechnungsfähigkeit" beruht und das beide ein Musterbeispiel für die Perversion von medizinischer Macht darstellen. Wenn die sogenannte „geisteskranke" Person gegen kein Gesetz verstoßen hat, hat sie ein Recht auf Freiheit. Und wenn sie ein Gesetz bricht, dann hat die Person das Recht, ernst genommen zu werden, das heißt, daß ihr Fall innerhalb des Strafverfolgungssystems entschieden und bestraft wird. So einfach ist das. Es gab Zeiten, in denen das Gesetz zwischen Freien und Leibeigenen, Männern und Frauen, Christen und Juden unterschied; wir sind heute davon überzeugt, daß diese Politik - obgleich einige dieser Regelungen auch als paternalistischer Schutz gerechtfertigt wurden - die Menschlichkeit der untergeordneten Personen zerstört hat und daher böse war. Heute unterscheidet das Gesetz zwischen geistig gesunden Personen und geistig kranken Personen, angeblich um letztere vor ihren fiktiven Krankheiten zu schützen. Diese Politik zerstört ebenfalls die Menschlichkeit der untergeordneten Menschen und aus diesem Grunde ist sie böse. So lange wie herkömmliche Weisheit verordnet, daß der psychiatrische Patient vor sich selbst im Schutz genommen werden muß, daß die Gesellschaft vor dem psychiatrischen Patienten beschützt werden muß und daß diese zwei Aufgaben rechtmäßig in die Hände einer Psychiatrie gehören, die über die entsprechende Macht verfügt, um diese Pflichten zu erfüllen, so lange wird die psychiatrische Macht nicht reformierbar werden.

Was ist es also ganz konkret, was wir ablehnen sollten? Es ist die zweifache juristische Praxis, auf der die organisierte Psychiatrie ruht: „civil commitment" und Einrede der Unzurechnungsfähigkeit. Wir sollten uns ausdrücklich dagegen wenden, erstens, daß Personen, die sich keines Verbrechens schuldig gemacht haben als Geisteskranken eine Schuld zugewiesen wird, sowie gegen jegliche Art von unerwünschten psychiatrischen Eingriffen und zweitens dagegen, daß Menschen, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben als Geisteskranke freigesprochen werden und dann ebenfalls unfreiwilligen psychiatrischen Eingriffen unterworfen sind. Zivile Verwahrung und die Verteidigung begründet auf „Unzurechnungsfähigkeit" sind wie siamesische Zwillinge. Wenn man einen umbringt, sind beide tot. Deswegen ist es auch so hoffnungslos, zivile Verwahrung abschaffen zu wollen, ohne gleichzeitig die Auswirkungen der Verteidigung begründet auf „Unzurechnungsfähigkeit" in den Griff zu bekommen, oder umgekehrt. Die gesellschaftlich nützlichen Fiktionen von Geisteskrankheit und psychiatrischem Fachwissen werden durch zivile Verwahrung und der Verteidigung begründet auf „Unzurechnungsfähigkeit" als „real" bestätigt. Beide schaffen und bestärken die Illusion, daß wir weise und gut mit unseren verzwickten sozialen Problemen umgehen, während wir sie in Wirklichkeit nur verworrener und schlimmer machen. Leider korrumpiert die psychiatrische Macht nicht nur die Psychiater, die über sie verfügen und die Patienten, die ihr unterworfen sind, sondern auch die Gemeinschaft, die sie befürwortet.

Als Orwell’s schreckliche Vision von „Neunzehnhundert vierundachtzig" sich ihrem Höhepunkt nähert, erklärt O’Brien Winston die funktionelle Anatomie der Macht wie folgt:

„Kein Mensch ergreift die Macht um dann auf sie zu verzichten. Macht ist kein Mittel, sondern ein Ziel. Man errichtet keine Diktatur, um eine Revolution zu schützen; man macht eine Revolution um eine Diktatur zu errichten. Das Ziel von Verfolgung ist Verfolgung. Das Ziel von Folter ist Folter. Das Ziel von Macht ist Macht. Verstehen sie mich nun allmählich?"26

Das Imperium der Psychiatrie ist über dreihundert Jahre alt und wird täglich allumfassender. Aber wir haben noch nicht begonnen, seine Existenz anzuerkennen, geschweige denn seine Rolle in unserer Gesellschaft zu begreifen.

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1. Tocqueville, A. de, quoted in, Auden, W. H. and Kronenberger, L., eds., The Viking Book of Aphorisms: A Personal Selection (New York: Dorset Press, 1981), p. 297.
2. Traffert, D. A., "Dangerousness" (Letters), Psychiatric News, 31: 14 (January 5) 1996.

3. Union Pacific Railway Co. v. Botsford, 141 U.S. 250, 251 (1891).

4. Olmstead v. United States, 277 U.S. 438 (1928), p. 479.

5. See Szasz, T. S., Psychiatric Slavery.

6. Application of President and Directors of Georgetown Col-lege, 331 F. 2nd, 1010 (D.C. Cir. 1964); emphasis in the original.

7. Thor v. Superior Court (Andrews), 855 P.2d 375 (Cal. 1993); pp. 375, 376, 384. The court was citing In re Osborne (D.C. 1972) 294 A. 2d 372, 375, fn. 5.

8. Servatius, R., quoted in Arendt, H., Eichmann in Jerusalem, p. 64, emphasis added.

9. Jaspers, K., General Psychopathology [1913, 1946], 7th edition, translated by J. Hoenig and M. W. Hamilton (Chicago: University of Chicago Press, 1963), pp. 839-840.

10. Klein, D. F. and Wender, P. H., Understanding Depression: A Complete Guide to Its Diagnosis and Treatment (New York: Oxford University Press, 1993), p. 174.

11. Auden, W. H., The Dyer's Hand, and Other Essays [1962] (New York: Vintage, 1968), p. 87.

12. Johnson, S., quoted in, Auden, W. H. and Kronenberger, L., eds., The Viking Book of Aphorisms: A Personal Selection (New York: Dorset Pres, 1981), p. 172.

13. Whitehead, A. N., Adventures of Ideas [1933] (New York: Free Press, 1961), p. 83.

14. Szasz, T. S., "The psychiatric will," American Psychologist, 37: 762-770 (July), 1982.

15. Bioy Casares, A., "Plans for an escape to Carmelo," New York Review of Books, April 10, 198, p. 7.

16. See, Szasz, T. S., Cruel Compassion: Psychiatric Control of Society's Unwanted (New York: Wiley, 1994), Chapter 6.

17. See Szasz, T. S., Anti-Freud: Karl Kraus's Criticism of Psychoanalysis and Psychiatry [1976] (Syracuse: Syracuse University Press, 1990), especially pp. 136-137.

18. Freud, S., "On the history of the psychoanalytic movement" [1914], in SE., vol. 14, pp. 26-27.

19. Freud, S. "On psychotherapy" [1905], SE., vol. 7, pp. 263-264, emphasis added.

20. Ibid., p. 28, emphasis added.

21. Szasz, T. S., Schizophrenia: The Sacred Symbol of Psychiatry [1976], (Syracuse: Syracuse University Press, 1988), p. 39.

22. Josipovici, G., The Book of God: A Response to the Bible (New Haven: Yale University Press, 1988), p. 307.

23. Freud, S., "On narcissism: An introduction" [1914], in SE., vol. 14, p. 74.

24. Szasz, T. S., The Ethics of Psychoanalysis [1965] (Syracuse: Syracuse University Press, 1988).

25. See, Szasz, T. S., "Psychoanalytic training: A socio-psychological analysis of its history and present status," International Journal of Psychoanalysis, 39: 598-613, 1958; and "Three problems in contemporary psychoanalytic training," A.M.A. Archives of General Psychiatry, 3: 82-94 (July), 1960.

26 Orwell, G., Nineteen Eighty-Four (New York: Harcourt Brace, 1949), p. 266.

 

 

 


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